Die WG der Tiere

Igel Stachelfurth

 

Am Rande einer kleinen Stadt irgendwo im Nirgendwo lag eine saftige, grüne Wiese. Dort stand, überschattet von unzähligen wild wachsenden Obstbäumen, ein altes, verlassenes Wohnmobil, an dem niemand mehr Interesse zu haben schien. Einige Fenster waren zerborsten. Längst blätterte der Lack an allen Seiten ab. Das Plastik der Blinker und Scheinwerfer war zersplittert. Die Stoßstange an seinem hinteren Ende hing herunter. Vorne war das Blech bereits eingedrückt und verbeult. Nein, schön sah es gewiss nicht mehr aus. Zumindest in den Augen der Menschen, die jeden Tag auf ihrem Weg in die Stadt und aus der Stadt heraus an ihm vorbei fuhren. Doch hätten sie nur geahnt, was sich im Innern dieses schäbigen, alten Wohnmobils verbarg! 

 

In den Augen vieler kleiner Wald- und Wiesentiere war das Wohnmobil überhaupt nicht alt und schäbig, sondern ein vorzügliches Zuhause! Vor nunmehr fünf Jahren war die kleine Igelfamilie Stachelfurth als erste vier Bewohner eingezogen, als sie entdeckt hatte, dass die Tür des verlassenen Wohnmobils nur noch lose in den Angeln hing und sich mühelos einen Spaltbreit öffnen ließ. Gerade genug, um ins Innere hineinschlüpfen zu können. Zuerst hatte es ihnen als Unterschlupf für den Winter gedient, aber inzwischen hatte sich Familie Stachelfurth so an das Leben im Wohnmobil gewöhnt, dass sie sich gar nicht mehr vorstellen konnten, anderswo zu leben.

 

Tagsüber machte Papa Mecki Ausflüge mit seinen beiden Igelsöhnen Pauli und Tommi, um ihnen das Leben in der Natur näherzubringen. Durch das Aufwachsen im warmen, gemütlichen Wohnmobil waren sie zu verwöhnten Teenagern geworden, die es mehr schätzten, mit anderen Tierkindern der Wohnmobil-WG zu spielen, als sich mit ihrem Vater an der frischen Luft herumzutreiben. 

 

Familie Stachelfurth wohnte unterm Fahrersitz. Ihre direkten Nachbarn unterm Beifahrersitz waren zwei Feldhamster namens Hein & Robert, zwei Brüder, die Junggesellen geblieben waren und seit einigen Jahren zusammen in ihrer kleinen Bude unterm rechten Sitz wohnten. Die Igel-Jungs mochten sie gern, weil es bei ihnen zu Hause lockerer zuging als bei Igel-Mama Elvira. Tagsüber sah man das Hein & Robert-Gespann eher selten, da lagen sie schlafend in ihren gemütlichen Sofas aus  ausgemusterten Menschen-Schuhen und Socken, die sie unter den Sitz geschleppt hatten. Wobei Hein so laut schnarchte, dass er bis vor die Wohnung zu hören war. Vor allem abends und nachts war bei den Brüdern immer was los. Es gab jede Menge zu Essen, ohne dass die Igelchen jemals ergründen konnten, wo die ganzen Leckereien herkamen. Irgendwo schienen die Hamster eine Vorratskammer zu haben, die sie heimlich vollstopften.

 

Bei Hein & Robert gab es auch Musik. Ein altes, tragbares Radio stand in ihrem „Vorgarten“, dem Fußraum. Wer zu groß war, sich wie die Igelchen unter den Sitz in die Junggesellenbude zu quetschen, versammelte sich abends hier im „Vorgarten“, um der Musik zu lauschen, zu futtern und Neuigkeiten auszutauschen. 

 

Denn Neuigkeiten gab es im Wohnmobil immer. Gerüchte verbreiteten sich rasend schnell unter den Tieren. Etwas geheim zu halten, war auf so kleinem Raum fast unmöglich! Mama Elvira sah es eigentlich nicht so gerne, dass ihr Söhne so viel Zeit bei Hein & Robert verbrachten, doch wenn sie abends heim kamen und über den neuesten Klatsch und Tratsch Bescheid wussten, freute sie sich insgeheim. So vermutete man neuerdings, dass sich bei den Meisen im Obergeschoß über der Spüle, die in einem der Schränke ihr Zuhause gefunden hatten, Nachwuchs ankündigte. Schon wieder. Das laute Gezwitscher der Vogelgroßfamilien war vielen Wohnmobil-Bewohnern ein Dorn im Auge.

 

Mama Elvira aber freute sich immer über Nachwuchs in der tierischen Wohngemeinschaft. Für sie konnte es gar nicht genug Trubel geben. Je mehr Bewohner und je unterschiedlicher, desto besser! Außerdem hatten sie noch Wohnungen frei. Die oberen Etagen waren alle belegt, fast alle von Vogelfamilien. In der alten Matratze der Schlafstätte hatte es sich eine Mäusefamilie gemütlich gemacht. Auf den Sitzmöbeln rechts und links vom Tisch lebten zwei streunende Katzen, die nur ab und zu anzutreffen waren, sich aber ihren Platz auch nicht streitig machen ließen. Eine war rot getigert, die andere schwarz wie die Nacht, mit fiesen grünen Augen. Unter dem Spülbecken hatte eine Familie Feldhasen ihr Zuhause gefunden. Sie hatten alle wunderschöne lange Löffelohren und puschelige weiße Schwänzchen. Im Vorratsschrank lebte ein Eichhörnchen, ein ziemlicher Einzelgänger, den niemand näher kannte. 

 

Aber zwischen diesen beiden Wohnungen gab es noch Leerstände. Für die Verteilung war der alte Waschbär zuständig, der in der Toilettenkabine lebte. Über die Jahre war er zu einer Art Hausmeister und Verwalter geworden und Ansprechpartner aller Tiere, wenn es zu Problemen kam. Aber meist war das Zusammenleben friedlich und schön. Schon allein, weil sich die Gemeinschaft genau aussuchte, wen sie neu aufnahm.

 

Zu Zeiten, als Familie Stachelfurth eingezogen war, hatte es noch keinen „Rat“ gegeben, dessen Zustimmung es bedurfte. Die Eltern hatten sich mit ihren wenigen Habseligkeiten und ihren beiden Kindern dort eingenistet, wo es ihnen am besten gefallen hatte. Heute war das nicht mehr ganz so einfach. Wer in die tierische WG einziehen wollte, musste nach der Besichtigung der Wohnräume erst einmal beim alten Waschbär vorsprechen, der seine Meinung an den „Großen Rat der Tiere“ weitergab. Doch so grummelig der alte Herr Waschbär auch daher kam, im Grunde war er ein herzensguter Kerl und legte meist ein gutes Wort für neue Bewohner ein. 

 

Der „Große Rat der Tiere“ setzte sich aus je einem Vertreter jeder Tierart zusammen, damit die Interessen aller Bewohner gewahrt blieben. Auf den ersten Blick mag das nicht so wichtig erscheinen, doch für jede Tierart sind im Zusammenleben andere Dinge von Belang. Und Herr Waschbär hatte die Bedürfnisse aller im Blick. Er achtete darauf, dass die nachtaktiven Mitbewohner wie zum Beispiel die Hamster nicht direkt bei den tagaktiven Vögeln einquartiert wurden, die den ganzen Tag fröhlich zwitscherten. Er vergab Wohnungen an Familien mit Kindern eher dort, wo bereits andere Tierkinder wohnten. Tiere, wie das einsiedlerische Eichhörnchen, die Winterruhe hielten, brauchten eine Wohnung, die genug Ruhe und Rückzugsmöglichkeiten bot. Herr Waschbär war auch der richtige Ansprechpartner bei den üblichen Beschwerden der Mäuse- und Vogelfamilien über die zwei Streunerkatzen, die öfter einmal einen von ihnen erschreckten oder ihnen auflauerten. Aber es wurde niemand ernsthaft verletzt oder angegriffen. Die Katzen machten sich eher einen Spaß daraus, ihre Mitbewohner zu erschrecken, die wiederum gar nicht lustig fanden.

 

Das Jagen und Essen fand draußen statt. Niemals hätte jemand seinen Platz in der liberalen Tier-WG ernsthaft gefährden wollen. Schon beim Einzug verpflichtete sich jeder, die Regeln für ein friedliches Zusammenleben zu befolgen und Rücksicht auf seine tierischen Mitbewohner zu nehmen. Nur so konnte die WG der Tiere funktionieren.  

 

Eines schönen Tages - es war kurz vor der Winterschlafzeit - beschlossen die beiden Igelkinder Pauli und Tommi, einen Ausflug zu machen. Die Schulferien hatten bereits begonnen, und sie hatten viel zu viel Zeit und große Pläne im Kopf, die es vor der Winterpause zu verwirklichen galt. Immer nur mit den anderen Tierkindern zu spielen, war ihnen viel zu öde… 

 

So stahlen sich die beiden Geschwister gleich morgens nach Sonnenaufgang davon. Sie waren noch nie ohne Aufsicht außerhalb des Wohnmobils gewesen! Der Reiz des Abenteuers kribbelte in ihren vielen kleinen Stacheln. Die Welt draußen kannten sie nur von Schulausflügen und von Erkundungstouren mit Papa Mecki, die sie immer zum Gähnen langweilig fanden. Denn nie zeigte er ihnen etwas wirklich Spannendes. 

 

Stattdessen mussten sie ewig lange mit ihm in sicherer Entfernung neben der großen Straße hocken und seinen Vorträgen über die Gefahren des Verkehrs und der Autos lauschen. Stundenlang übte er mit ihnen, wie sie sich zu verhalten hatten, falls sie doch einmal einem Menschen begegnen sollten – was auf der abgelegenen Wiese sowieso nie geschah. 

Pauli und Tommi konnten es im Schlaf aufsagen: Peilen – Rennen – Verstecken – Einigeln – Warten. Das hieß: Ein sicheres Versteck anpeilen, so schnell wie möglich dorthin rennen, wenn keine Flucht möglich war, einigeln und alle Stacheln ausfahren. Warten, bis die Gefahr vorüber war.

 

Unzählige Male hatte ihr Vater den Ernstfall mit ihnen geübt. Dabei hätten die Brüder zu gern die Menschen in der Stadt näher ausgekundschaftet, um zu erfahren, was denn so gefährlich an ihnen war. Zum Glück zeigten die endlosen Tiraden ihres Vaters Wirkung. Auch bei ihrem Ausflug hielten sie sich von der Stadt fern und blieben in der unmittelbaren Umgebung des Wohnmobils. 

 

Da gab es eine Menge zu erkunden, wenn einen nicht ständig jemand zurückrief. Mit ihren kurzen, flinken Beinchen eilten sie über die Wiese hin zum Waldrand, damit keiner der WG-Bewohner sie mehr sehen konnte. Hier oben hatte das dicke, alte Ponny Don Camillo seine Außenweide. Er futterte den lieben langen Tag. Und so sah sein Bauch auch aus. Er war kugelrund. Don Camillo konnte sich nur ganz langsam, Schritt für Schritt mit seinem hin und her wiegenden Bauch fortbewegen. Er war kein freundliches Pony, eher mürrisch und eigensinnig und hatte für zwei junge Igel voller Tatendrang, die ihn obendrein beim Essen störten, wenig übrig. 

 

So zogen sie weiter Richtung Wald. Von Hein & Robert hatten sie tolle Geschichten über ihre Zeit vor der Tier-WG gehört. Irgendwo musste es noch mehr Igelfamilien mit Igelkindern zum Spielen geben. Und sie hatten auch von einem wildlebenden Schwein gehört, das nicht mehr aufhören konnte zu rülpsen. Es war wie eine Art Krankheit. Das klang doch spannend! Die Igelkinder machten sich auf die Suche. Doch statt des rülpsenden Schweins fanden sie Milo, den Igel, der in einem alten Baumstumpf hauste. 

 

Die beiden waren ganz aufgeregt, einen fremden Igel zu treffen, erschraken bei seinem Anblick aber ganz fürchterlich und tippelten erst einmal ein paar Schritte rückwärts. Tommi, der immer ganz direkt war, fragte ihn, was denn mit ihm passiert sei? Und Milo erzählte ihm mühsam seine Geschichte, denn das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer.

 

Sein Gesicht war ganz schief und zerdrückt. Er hatte nur noch ein Auge, ein Nasenloch und immer wieder Schaum vor dem Mund. Er sprach sehr langsam. Bei einem Ausflug in die Stadt war er an der Straße von einem Auto erfasst worden, das er zu spät gesehen hatte. Zum Glück hatte es ihn nur seitlich erwischt, sodass er mit schweren Verletzungen überlebt hatte. Aber er hatte lange Zeit gebraucht, um sich zu erholen und hatte noch immer Einschränkungen beim Sprechen und Futtern. Tommi und Pauli waren erschüttert.

 

Am liebsten hätten sie den Igel mit in die WG genommen, damit er ihre Gemeinschaft kennenlernte und dort ein einfacheres Leben führen konnte. Doch Milo lehnte ab. Er wollte nicht ständig seine Geschichte erzählen und von den anderen  angegafft werden.

Es war ihm ein Bedürfnis, die beiden jungen Igel vor den Gefahren zu warnen, die für Igel und andere Tiere vom Straßenverkehr ausgingen. Irgendwie kamen Tommi und Pauli diese Worte bekannt vor. Ihr Vater hatte also doch Recht gehabt mit all seinen Übungen und Vorträgen! Ihnen wurde klar, dass sie ihn hätten ernster nehmen sollen. 

 

Milo schickte die Jungs sofort nach Hause, als er hörte, dass sie ohne Begleitung unterwegs waren. Und tatsächlich machten sich die beiden Igel auf direktem Weg nach Hause. Ihr Abenteuerdurst war für diesen Tag gestillt. 

 

Als sie zu Hause ankamen, war die gesamte Tier-WG in heller Aufruhr. Ihr unangemeldeter und vor allem unbeaufsichtigter Ausflug war bereits bemerkt worden – natürlich von Mama Elvira. Die Tiere waren kurz davor gewesen, in organisierten Suchtrupps loszuziehen, um die beiden Igel zu suchen, als diese mit hängenden Schultern und Köpfen vor dem Wohnmobil eintrafen. 

 

„Dem Himmel sei Dank!“, rief Elvira. Papa Mecki lief auf sie zu: „Da seid ihr ja. Wo habt ihr euch denn rumgetrieben?“ Doch bevor er noch weiter schimpfen und die Bestrafung aussprechen konnte, die er sich ausgedacht hatte, sah er an ihren Gesichtern, dass das gar nicht nötig war. Stattdessen fragte er: „Was ist denn mit euch los? Was ist passiert?“ 

Tommi und Pauli erzählten nun von ihrer Begegnung mit dem Igel Milo und was sie von dessen Begegnung mit einem Auto gelernt hatten…

 

-Ende-

 



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